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Schweizer Familie, Januar 2013

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«Der Traum ist der Atem der Seele»​



Jean Ziegler, als Kind hat man viele Träume – erinnern Sie sich?
Ich las viel – unter anderem die Romane von Karl May – und träumte davon …​
… Winnetou zu sein?​
Genau. Winnetou war schlauer als die anderen und schaffte es, das Land der Indianer vor den Weissen zu schützen.
Ihre Eltern rieten Ihnen: «Mach dini Sach.» In der Pubertät stürzte mich der Satz in eine Sinnkrise.
Warum?
Ich wuchs in Thun auf. Auf dem Viehmarkt sah ich oft unter­ernährte Verdingkinder. Also fragte ich daheim: Warum geht es diesen Kindern schlechter als mir?​
Was antworteten Ihre Eltern?
Mach dini Sach. Gott hat die Welt gemacht, so, wie sie ist.
Und machten Sie Ihre Sache?
Damals ging ich in die Luft, wenn ich Ungerechtigkeit erkannte, aber keine Erklärung bekam. Ich schimpfte und lief weg.
Ihre Sache ist es, sich für eine bessere Welt einzusetzen. In Ihrem neuen Buch werfen Sie dem Westen vor, er lasse die Menschen in der Dritten Welt verhungern.
Ich äussere meinen Zorn über eine Absurdität: Die Uno-Welternährungsorganisation FAO weist aus, dass die Weltlandwirtschaft heute 12 Milliarden Menschen normal ernähren könnte. Und doch sind eine Milliarde unterernährt, und alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter 10 Jahren.
Träumen Sie davon, dass diese Ungerechtigkeit aufhört?
Wir stehen im Westen am Vorabend eines Aufstandes des Gewissens. Revolutionär Che Guevara sagte: «Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.»
Wo sehen Sie Risse?
Die Weltdiktatur des Finanzkapitals wird zusammenbrechen.
Warum?
In einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Die Menschen wollen nicht länger unterdrückt werden von den Oligarchen der Grossbanken. Am Ende meiner Vorträge kommen oft Leute zu mir und sagen: «Sie haben recht. Aber was kann ich tun, wenn 85 Prozent aller gehandelten Nahrungsmittel von 10 multinationalen Konzernen kontrolliert werden?»​

Was kann ein Einzelner tun?
Der Hunger ist menschengemacht. Der französische Schriftsteller Georges Bernanos schrieb: «Gott hat keine anderen Hände als die unseren.» Entweder wir ändern die kannibalische Weltordnung, oder keiner tut es.
Auf Ihren Uno-Missionen sahen Sie mit eigenen Augen die Not und Armut der Menschen. Träumen Sie nachts davon?
Ja. Aber ein Albtraum ist nichts im Vergleich zum Elend der hungernden Menschen.
Im «Zeit Magazin» sagten Sie 2005: «Wer nicht träumt, kann diese Welt nicht ertragen.»
Wie könnte ich ohne Träume meine Erinnerungen an die ­Opfer ertragen? Tagträume sind aber nicht bloss Fluchtwege, sondern auch Wege – virtuelle Wege zu einer menschenwürdigeren Welt. Wir können träumen, was sein könnte. Das macht Mut. Der Traum ist der Atem der Seele.​

Was gibt Ihnen Kraft, für eine gerechtere Welt zu kämpfen?
Ich bin nicht mutiger als andere – nur unglaublich privilegiert. Als Professor hatte ich akademische Freiheit. Im Nationalrat genoss ich die parlamentarische Immunität. Und heute habe ich die Uno-Immunität. Ohne sie hätte ich mein neues Buch nicht schreiben können. Die Konzerne, die ich dar­in anklage, hätten mich zerstört.

Macht der Glaube Sie stark?
Ja. Aber über den Glauben will ich nicht reden.
Warum nicht?
Weil der Mensch ist, was er tut, und nicht, was er proklamiert.
Sie sind 78. Fügten Sie in all den Jahren zu «Mach dini Sach» ein weiteres Lebensmotto hinzu?
Der Rat meiner Eltern machte mich als Jugendlicher zwar wütend. Heute weiss ich, er rettete mich. Ich hatte ein kompliziertes Leben, ging oft fast unter. Doch diese Deutschschweizer Mentalität, dass es einem nicht wohl ist, wenn man nicht jeden Tag arbeitet, hielt mich am Leben – und natürlich die Hoffnung.​

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Jean Ziegler, 78, war Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Der frühere SP-Nationalrat und Soziologieprofessor ist heute Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates. Sein aktuelles Buch heisst «Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt».

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