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Schweizer Familie, Januar 2010

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Der Zug des Lebens​

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Diese Reise führt mit einer Schweizer Dampflok ins rumänische Wassertal. So entrückt dieser schöne Flecken Erde liegt, so freundlich empfangen seine Bewohner den Fremden.

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Der Himmel weint, und Priester Vasile Lutai lächelt. Die paar Tropfen scheren ihn nicht. Der orthodoxe Geistliche ist anderes gewohnt. Die Zeit unter Ex-Diktator Nicolae Ceausescu hat er mannhaft überstanden. Bis 1989 war es in Rumänien verboten, Kirchen zu bauen. Der Priester baute trotzdem. Das Kirchlein Heilig Maria. Ohne einen Nagel, gänzlich aus Holz gezimmert, steht es auf einer Wiese ein Stück oberhalb seiner Gemeinde Scradei im Wassertal.
In diesem verwunschenen Tal in der Maramures, hoch im Norden Rumäniens, unweit der Grenze zur Ukraine, lebt ein besonderer Menschenschlag. Aufmüpfig, willensstark, störrisch. Bei den Oberen in der Hauptstadt Bukarest ging das Tal oft vergessen. Aber nicht, weil es so abgelegen sei, sagt Vasile Lutai. Die Menschen im wildromantischen Wassertal leben im Wald und vom Wald. Holz war schon immer die grösste Einnahmequelle. Bis zum Zweiten Weltkrieg brachten Flösser die Stämme zu Tal. 1932 wurde ein erstes Teilstück der Wassertalbahn eröffnet.  Bis 1970 betrieb die staatliche rumä​nische Forstverwaltung noch ein Waldbahn-Streckennetz von 3000 Kilometern. 40 Jahre später ist die dampfbetriebene Schmalspurbahn «CFF Viseu de Sus» die letzte ihrer Art in Europa geblieben. «Für uns ist es der Zug des Lebens», sagt Vasile Lutai. Immer am Montag, in aller Herrgottsfrühe, keucht der Zug los, transportiert die Holzarbeiter in die Wälder. Erst zum Wochenende kehren die Männer zu ihren Familien zurück.
Die Hauptstadt weit weg, die Welt trotzdem nah: Im Hotel Gabriela erklärt mir die Rezeptionistin, dass alle Zimmer Internetanschluss haben und das Restaurant 24 Stunden offen sei. 17 000 Menschen leben in Viseu de Sus. Eingerahmt von den sanft geschwungenen Hügeln des Maramureser und des Tiblesu-Gebirges, scheint die Kleinstadt jahrelang vom Rest der Welt weggesperrt gewesen zu sein. Die Strassen sind längst nicht alle asphaltiert. Ein Pferdefuhrwerk holpert vorbei. Auf den umliegenden Wiesen grasen Schafe und Kühe. Bauern haben Heu zum Trocknen auf einen meterlangen Stecken gespiesst.

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Berner Liebe

Viele Häuser sind aus Holz gebaut: die Dächer aus Holzschindeln, die hölzernen Wände und Fensterläden oft farbenfroh bemalt, hinter den Scheiben Häkelgardinen. Am Ende der Hauptstrasse glänzt ein Palast der Neuzeit: ein Supermarkt, verglast. Rumäniens Mitgliedschaft in der EU, seit Januar 2007, sorgt allerdings nicht nur für neue Konsumtempel, sondern lässt die Menschen auch merken: Initiative und Arbeit im eigenen Land zahlen sich aus.
Eine Chance sehen sie im Fremdenverkehr. Sanfter Bahntourismus soll die Unberührtheit des abgeschiedenen Wassertals bewahren, Lebensgrundlage und Traditionen der Menschen sichern. Trotzdem suchen viele Junge das Glück in Bukarest. Oder im Ausland. Und so kann es im Sommer vorkommen, wenn die Weggezogenen zur Ferienzeit zurückkehren, dass die Autos mit spanischen und italienischen Nummernschildern im Städtchen in der Mehrheit sind.
Dass die Schmalspurbahn «CFF Viseu de Sus» – trotz der ökonomischen Schwäche der Region – bis heute ins Tal keucht, ist auch einem Schweizer zu verdanken: Den Berner Fotografen Michael Schneeberger verschlug es Anfang der 1990er-Jahre zum ersten Mal hierher. Er verliebte sich – in den Ort, in das Tal, in die Menschen und, ganz besonders, in die Bahn. Er glaubt an die Zukunft dieses Fleckens Erde, über den gesagt wird, dass nicht die Uhren die Zeit messen, sondern die Ewigkeit. Er gründete den Verein «Hilfe für die Wassertalbahn». Sorgte dafür, dass seit 2002 auch Touristen ins Tal dampfen können. Auch für Michael Schneeberger ist der Zug das Leben.
Die Schienen schlängeln sich entlang dem Fluss Vaser (auf Deutsch Wasser) das Tal hinauf. Knapp 50 Kilometer sind es bis zur Endstation Izvorul Boului. Eine halbe Tagesreise bei einer Höchstgeschwindigkeit von weniger als 15 Stundenkilometern. Die Touristenzüge wenden bereits bei Paltin, einer Waldlichtung bei Kilometer 22.

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Maramuresischer Schnaps

Während die Männer in den Wäldern Holz hacken, schauen die Frauen zu Kinder, Haus und Garten, bieten Gemüse und Früchte auf dem Markt in der Zisperei feil. Die Zisperei war einst das deutsche Stadtviertel von Viseu de Sus, das auch Oberwischau heisst. Hier lebten deutschsprachige Kolonisten, die um 1800 aus der Region Zips im Nordosten der heutigen Slowakei eingewandert waren. Mehr als ein paar Brocken Deutsch spricht heute niemand mehr auf dem Markt. Die Marktfrauen in der Zipserei strahlen ihr schönstes Lächeln. Eine kramt extra ihre goldenen Ohrringe hervor, während ich ihr Gemüse begutachte und ob der riesigen Käselaibe nicht aus dem Staunen komme. Nicht mehr verkauft werden dürfen, gemäss Vorschrift der EU, selbst gebrannte Schnäpse, früher eine beliebte Einnahmequelle der Bauern.
Doch Brüssel ist weit weg. Ein Händler bietet Hochprozentiges an. Er dürfe, raunt er mir zu. Er habe den Polizisten bestochen. Weiter hinten sammelt ein junger Geistlicher für sein Kloster. Bald jeder, der bei ihm vorbeigeht, drückt ihm eine Münze in die Hand. So hoch, wie die vielen pfeilspitzen Kirchentürme im Maramures von Weitem die Anwesenheit Gottes bezeugen sollen, so tief sitzt der Glaube in den Herzen dieser Menschen. Am nächsten Tag sehe ich es: Tausende marschieren während der Prozession an Maria Himmelfahrt den kilometerlangen Weg hinauf zum Kloster Moisei.
Wer ins Wassertal will, muss früh aus den Federn. Kurz nach acht keucht der Touristenzug los. Ein gellend lauter Pfiff – das Zeichen zur Abfahrt. Beissender Rauch steigt in die Nase. Oft stampfen zwei Kompositionen hintereinander her – weil der Ansturm so gross ist. Heute haben mehr als 300 Leute ein Billett gekauft. Anders kommt man schliesslich nicht ins Wassertal – ausser zu Fuss. Aber das wird nur erfahrenen Wanderern empfohlen. Ausgeschilderte Wege fehlen fast gänzlich.

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Rumänische Begeisterung

Und der Bahn fehlt das Geld. Deshalb kämpft Michael Schneeberger weiter, brütet über einem neuen Projekt: ein Hotel auf Rädern. Noch in diesem Jahr sollen zwei Schlafwagen auf den Gleisen neben dem Stationshäuschen zu stehen kommen. Priester Lutai ist begeistert von der Idee. Er hat uns in Pfarrhaus eingeladen. Wir sitzen in der Bibliothek. Ileana, seine Frau, serviert Pflaumenschnaps. Der Priester schreibt auch, dichtet japanische Haiku-Verse. Fünf Bücher hat er bereits publiziert.
Später erzählt er von seinem Traum: Ein Altersheim will er bauen. Ein Heim für Menschen, die niemand mehr wolle. Auf der Wiese neben dem Kirchlein Heilige Maria. Die Pläne sind längst vorhanden, allein das Geld fehlt. Aber der Herrgott wirds schon richten. Priester Lutai ist zuversichtlich. Der Zug des Lebens gibt ihm Hoffnung. Vor vier Jahren hat er die «Elvetia» getauft. Die Lokomotive mit Baujahr 1954 gehört dem Verein «Hilfe für die Wassertalbahn». Dessen Gönner bezahlten die Generalüberholung. «Wir wollen einerseits ein Kulturgut erhalten und andererseits sanften Tourismus entwickeln», sagt Fotograf und Hauptinitiator Michael Schneeberger.
Rollmaterial aus der Schweiz sorgt zudem seit zwei Jahren dafür, dass in der Hochsaison alle Fahrgäste einen Sitzplatz finden: Die Wengeneralp-Bahn lieferte drei Waggons. Symbolischer Preis: ein Franken pro Stück.
Heute Morgen schnauben «Elvetia» und «Cozia 1», eine Reghin-Neubau-Lokomotive mit Jahrgang 1986, ins Tal. Je fünf Waggons ziehen sie hinter sich her. Eine Gruppe Rumänen und vier junge Wanderer aus Tschechien sitzen mit mir im Abteil. «Cozia 1» ächzt mitleiderregend. Und aufopfernd arbeitet Heizer Andrej, der schon Stunden zuvor mit dem Aufheizen begonnen hat. Während der ganzen Fahrt muss er ein Holzstück nach dem anderen in den Heizkessel schieben. Menschen brauchen ebenfalls Treibstoff. Neun Uhr ist noch nicht vorbei, als in unserem Wagen die erste Schnapsflasche ihre Runde macht.

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Wassertaler Gemeinsinn

Bald werden die Häuser weniger, das Tal enger. Und rasch endet, was noch als Strasse gelten kann. Jetzt beansprucht die Vaser die ganze Breite des Tales. Drei vier Meter freies Ufer hat der Mensch dem Fluss abringen können. Unschuldig plätschert das Wasser, von Wiesen und dunklem Wald gesäumt. Nur das vernarbte Ufer verrät, dass der Fluss auch anders kann – reissender, wilder. Und brutal zerstörend. Wie im Juli 2008, nach den sintflutartigen Gewittern. An mehreren Stellen unterspülte er das Bahntrassee und riss es weg. Manch einer glaubte, das schreckliche Hudelwetter habe dem Zug sein Leben ausgehaucht. Von wegen.
Der Zug des Lebens ernährt weiterhin das Tal. Die Bewohner wissen um seine Bedeutung. Sie standen zusammen, krampften, trugen tonnenweise Schotter weg. Meter um Meter wurde das über dem Abgrund hängende, unterspülte Gleis auf soliden Grund gerückt. Im November fuhren die Holzzüge wieder, eine Woche später auch jene für die Touristen.

Wer im Wassertal ein Haus besitzt, hat sich auf Gäste eingestellt und Zimmer ausgebaut. Sie sind mit «Pension» oder «Retea turistica» angeschrieben. Jene von Lokomotivheizer Vasile Barsan und seiner Frau Irina steht direkt am Trassee. Sie sind stolz, dass die Welt endlich ihr viel zu lange vergessenes Tal besuchen kommt: «Unser Gäste sind keine Fremde, sondern Freunde.»

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