​​Die Zeit; September 2010
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«Verliebtsein ist eine sympathische Dummheit»
Seine Bücher sind Bestseller und werden verfilmt – wie jetzt «Der letzte Weynfeldt». Martin Suter denkt nach über die Käuflichkeit des Menschen, die Verantwortung der Vermögenden und den wahren Wert der Liebe.​
Martin Suter, macht Liebe dumm?
Nicht die Liebe, aber das Verliebtsein. Weil wir unser Urteilsvermögen verlieren. Aber es ist eine sympathische Dummheit und ähnlich dem Zustand während der Lektüre eines guten Buches: Beides macht uns für eine Weile zu untauglichen Mitgliedern der Gesellschaft.
Wieso untauglich?
Bücher sind subversiv: Man liest nächtelang durch, ist bei der Arbeit unkonzentriert, kümmert sich zu wenig um seine Umgebung. Das ist eine Vorstellung, bei der sich der Schriftsteller in mir ins Fäustchen lacht.
Wie untauglich sind Verliebte?
Sie sind nicht blind, aber weniger scharfsichtig. Das Leben eines anderen Menschen wird plötzlich wichtiger als das eigene – eine lehrreiche Erfahrung.
Kann Liebe einen Menschen verändern?
Eine gute Beziehung hat mit gegenseitiger Anpassung zu tun. Wer sich anpasst, verändert sich. Ich meine damit durchaus auch banale Dinge: Ein unordentlicher Mensch wird etwas ordentlicher. Oder jemand redet plötzlich über Themen, die er sich davor nicht anzusprechen traute.
Adrian Weynfeldt, Protagonist in Ihrem vorletzten Roman «Der letzte Weynfeldt», ist Mitte fünfzig und von grossbürgerlicher Herkunft. Der Junggeselle glaubt mit der Liebe abgeschlossen zu haben, dann verliebt er sich Knall auf Fall in einer Bar in die junge Lorena. Ist Ihnen Ähnliches auch schon passiert?
Unsere beiden adoptierten Kinder waren Liebe auf den ersten Blick.
Und Ihre Frau Margrith?
Ich war damals in einer Phase, in der ich das Risiko «Liebe auf den ersten Blick» ausdrücklich mied. Beim zweiten Blick war es trotzdem um mich geschehen.
Sie sind seit 1975 ein Paar. Kennen Sie das Rezept für eine gute Beziehung?
Ich weiss nicht. Liebe ist sicher die erste Voraussetzung. Weitere Zutaten sind: gegenseitiger Respekt und das Interesse für das Leben des anderen. Und, ganz wichtig: Man sollte nicht immer das Gefühl haben, man verpasse etwas im Leben.
«Der letzte Weynfeldt» wurde verfilmt und wird diesen Sonntagabend auf SF 1 gezeigt. Haben Sie ein Problem damit, wenn aus Ihren Worten die Bilder eines anderen werden?
Ich bin keiner, der fanatisch an seiner Vorlage hängt.
Gefällt Ihnen der Film von Regisseur Alain Gsponer?
Ja – vor allem der wunderbar melancholische und elegante Weynfeldt, gespielt von Stefan Kurt, und die Bilder von Zürich. Ich habe die Stadt noch nie so weltstädtisch gesehen.
Junge, schöne Frau nimmt sich älteren, reichen Mann zum Freund: Die Konstellation ist nichts Aussergewöhnliches.
In der Liebe ist keine Konstellation aussergewöhnlich.
Aber diese Beziehungen halten oft nicht lange.
Auch die anderen nicht. Ich möchte nicht erzkonservativ klingen, aber es hat sicher mit einer gewissen Wertekrise zu tun. In den Achtzigerjahren entdeckten und propagierten die Trendforscher den Megatrend «Hedonismus». Er hat uns selber in den Mittelpunkt unseres Handelns und Denkens gestellt. Eine Tendenz, die nicht nur auf unser Privatleben, sondern auch auf die Gesellschaft Auswirkungen hat. Und nicht zuletzt auf die Wirtschaft.
Als Verfasser der erfolgreichen «Business Class»-Kolumne kennen Sie die Mechanismen der Wirtschaft. Verändert Geld die Menschen?
Ja, Geld verändert – vor allem wenig Geld.
Mehr als viel Geld?
Für arme Menschen ist Geld wichtiger als für jene, die genug oder viel haben. Wer wenig hat, ist gezwungen, Arbeiten zu verrichten, die er gar nicht will, oder mit Menschen zusammenzuarbeiten, die er überhaupt nicht mag. Wenig Geld zu haben ist demütigend und ungerecht.
Zu viel Geld verdirbt den Charakter, heisst es.
Nicht in jedem Fall. Aber das Privileg, viel Geld zu haben, ist eben auch mit Verantwortung verbunden. Vielen der heutigen Reichen fehlt die Kultur, die es braucht, um mit viel Geld umzugehen. Plötzlich sind sie reich und wissen nicht, wozu sie das verpflichtet.
Lässt sich damit auch die Bankenkrise erklären?
Bis zu einem gewissen Grad bestimmt. Der Gewinn ist zum alleinigen Massstab geworden. Das erste Ziel eines Unternehmens ist nicht mehr, einen tollen Staubsauger auf den Markt zu bringen, sondern für die Anteilseigner möglichst viel Gewinn zu machen. Diese Gewinnfixierung hat zu diesen irrealen Verhältnissen geführt. Und weil die Wirtschaft in die Hände der Gewinnsüchtigen geriet, wurde mit mehr Geld gehandelt als überhaupt auf der Welt im Umlauf ist.
Die Löhne der Manager stiegen in abstruse Höhen.
Geld wurde zum Massstab: Schaut, unsere Manager verdienen Millionen, deshalb sind wir ein gutes Unternehmen.
Ist nicht die Gier der Manager daran schuld?
Es ist weniger die Gier nach Geld als die Gier nach Karriere. Ich glaube, dem Manager wäre es egal, ob er drei oder sechs Millionen Franken verdient. Geld ist leider zum Leistungsausweis geworden. Je mehr ein Manager verdient, desto höher ist seine Qualifikation.
Welchen Ausweg sehen Sie aus dieser verfahrenen Situation?
Es wird zwar behauptet, wir hätten nichts aus der Krise gelernt. Ich sehe aber durchaus positive Ansätze.
Welche?
Die Eigenfinanzierung einer Bank muss heute zum Beispiel höher sein als früher. Zwar immer noch niedriger als bei ihren Kunden, wenn sie ein Häuschen bauen wollen, aber immerhin.
Manche Experten erwarten bereits die nächste Krise.
Ich bin kein Experte, aber das Leben hat mich gelehrt, dass eine Krise nie die letzte ist. Und trotzdem glaube ich: Wir Menschen lernen – wenn auch langsam.
Schaut man das Finanzsystem an, drängt sich die Frage auf: Sind alle Menschen käuflich?
Bis zu einem gewissen Grad sicher. Die meisten Leute leben nur so, wie sie leben, weil sie dafür bezahlt werden.
Angenommen, ich böte Ihnen 15 Millionen Schweizer Franken, wenn Sie in den nächsten drei Monaten einen Schundroman schreiben.
Wenn Sie mich das vor 20 Jahren gefragt hätten, hätte ich es vielleicht getan. Glücklicherweise fragte mich damals keiner.
Haben Sie schon ein Kapitel in einem Roman umgeschrieben, weil Sie dachten, die Geschichte verkaufe sich so besser?
Nein, noch nie. Aber schon oft, weil ich glaubte, sie lese sich dann besser.
Ihr aktueller Roman «Der Koch» hat sich bis heute rund 300 000-mal verkauft. Belastet der Erfolg beim Schreiben?
Ich habe zwar schon gesagt, der Erfolgsdruck sei weg und ich könnte mir jederzeit einen Flop leisten. Aber ich bin wie jeder Schriftsteller: Ich möchte, dass möglichst viele Leute meine Bücher lesen. Doch ich verlasse mich nicht auf ein Erfolgsrezept. Ich schreibe jedes Mal etwas Neues, anderes und gehe damit jedes Mal ein Risiko ein. Das wird auch bei meinem nächsten Roman nicht anders sein.
In welcher Welt spielt er?
Ich rede nie über das Thema meines nächsten Romans. Und überhaupt: Vorher erscheint noch ein anderes Buch von mir. Ich versuche mich in einem neuen Genre, schreibe einen Krimi.
Mit einem Kommissar in der Hauptrolle?
Kein Kommissar, aber schon ein Serienheld.
Und mehr verraten Sie uns noch nicht darüber?
Nur so viel: Alle meine Romane waren Hommagen an bestimmte Gattungen. Der nächste wird jetzt eine Hommage an den Serienkrimi.
Was bedeutet Ihnen das Schreiben von Büchern?
Ich habe mein Leben lang geschrieben. Es ist das, was ich am besten kann. Ich bin keiner, der aus Prinzip den Weg des grössten Widerstandes sucht. Ich bemerkte früh, dass mir das Schreiben liegt. Seit ich zwanzig bin, lebe ich davon. Ich geniesse das Privileg, von dem zu leben, was ich am liebsten mache.
Ist Schreiben für Sie lebenswichtig?
Ich glaube nicht. Margrith, meine Frau, sieht es anders: Sie kann sich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht geschrieben hätte.
Sie lebten ein schönes, sorgenfreies Leben, zumindest von aussen gesehen, bis vor einem Jahr Ihr dreijähriger Sohn erstickte. Hadern Sie mit dem Schicksal?
Nicht so sehr mit meinem als mit seinem. Es ist zwar schlimm, was unserer Familie widerfahren ist, aber viel schlimmer ist, was Toni passiert ist.
Empfinden Sie Antonios Tod nicht als eine Art Strafe für Ihre vielen unbeschwerten Jahre?
Wenn es jahrelang gut geht, ist einem die Angst vor dem Neid der Götter nicht fremd.
Wie fehlt Ihnen Antonio?
In allem.
Sie haben feuchte Augen. Wird immer eine Narbe bleiben?
Es ist wie Liebeskummer, der nie mehr weggeht.
Können Sie trotzdem wieder glücklich sein?
Es gibt wieder Momente, in denen ich sehr glücklich bin. Sie sind einfach kürzer. Unbeschwerte Stunden erlebe ich mit unserer Tochter. Es wäre furchtbar, wenn wir in ihrer Nähe nur weinen würden. Ana hat das nicht verdient.
Ist Sie Ihnen ein Trost?
Sie gibt mir Lebensfreude.
Sind Sie gläubig?
Ich habe daran gearbeitet, es zu werden.
Haben Sie den Glauben verloren?
Nicht den Glauben, aber mein Gottvertrauen.
Weil Sie nicht verstehen, warum Antonio so jung sterben musste?
Ich bin keiner, der alles verstehen muss. Ich habe seit dem Konfirmationsunterricht nicht mehr nach dem Sinn des Daseins gesucht. Ich konnte gut damit umgehen, dass unser Leben keinen Sinn hat. Ich meine das nicht zynisch. Es muss nicht alles einen Sinn haben. Als ich meine Tochter beim Zeichnen einmal fragte, was das sei, sah sie mich mitleidig an und sagte: «Wäisch, e Zeichnig.» Mein Grundgefühl war bis vor einem Jahr: Alles kommt gut. Heute ist alles immer in der Schwebe.
Gehen Sie in die Kirche?
Nicht oft. Manchmal ging ich ins Kloster Einsiedeln, dabei bin ich gar nicht katholisch. Der Ort hat eine Wucht, die mich fasziniert. Und auch, dass er getragen wird, seit Jahrhunderten, von viel intelligenteren Männern als ich, die keinen Zweifel an etwas haben, an das ich gerne glauben möchte.
Beten Sie seit Antonios Tod nicht mehr, weil Sie denken, es nützt doch nichts?
Das haben Sie jetzt gesagt, aber es kommt der Sache nahe.
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Martin Suter, 62, arbeitete jahrelang als Werber und Werbetexter in Basel, daneben schrieb er Reportagen für die Zeitschrift «Geo» sowie Theaterstücke, Film- und Fernsehdrehbücher. Für die «Weltwoche» und das «Magazin» verfasste er während vieler Jahre die Kolumne «Business Class», für «NZZ Folio» «Richtig leben mit Geri Weibel». 1997 erschien «Small World» bei Diogenes, sein erster Roman. Heute gehört er zu den erfolgreichsten Schweizer Schriftstellern. Sein vorletzter Roman «Der letzte Weynfeldt» wurde gerade verfilmt. Martin Suter lebt mit seiner Frau Margrith Nay und seiner Tochter Ana abwechslungsweise auf Ibiza und in Guatemala.
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