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Schweizer Familie, April 2013

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«Ich gehe zum Nichtsdenken»

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Schriftsteller Franz Hohler wandert nicht, um nachzudenken, sondern um den Kopf zu leeren. Er erzählt, warum ihn auf dem Säntisgipfel ­Traurigkeit befiel und wie er einmal einen Berg sah, wo vorher keiner war.

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Franz Hohler, gehen Sie gerne weg?
Für eine Wanderung gehe ich gerne und für einen Spaziergang jederzeit weg.
Und für eine längere Reise?

Gehe ich nicht so gerne weg. Beim Abschiednehmen brauche ich immer einen Moment des Loslösens aus der vertrauten Umgebung und von meiner Frau Ursula. Ich spüre ein kindliches Heimweh.
Sie leiden bereits vor dem Weggehen an Heimweh?

Beim Aufbruch, ja. «Partir, c’est mourir un peu» heisst ein französisches Sprichwort. Abschied ist ein bisschen wie Sterben.
Trotzdem gehört «gehen» zu Ihren Lieblingswörtern, schreiben Sie in Ihrem Buch «Spaziergänge».

Ich halte das Gehen für einen Grundzustand des Menschen. Wir sind nicht zum Sitzen gemacht. Ich achte darauf, so oft wie möglich in Bewegung zu sein. Ich kann zwar nicht jeden Tag eine Wanderung oder einen Spaziergang unternehmen, bewegen kann ich mich trotzdem. Ich nehme die Treppe statt den Lift. Bin ich mit dem Tram unterwegs, steige ich eine Station früher aus und spaziere nach Hause. Und abends, wenn ich das Gefühl habe, ich sei nicht genug gelaufen, drehe ich noch eine Runde im Quartier. Ich ­zähle oft zusammen, wie viel ich am Tag gegangen bin.
Sie zählen die Anzahl Schritte?

Nein, ich addiere die Zeit, während der ich gegangen bin.
Wozu?

Ich bin überzeugt, Unterwegssein trägt wesentlich zum Wohlbefinden bei. Deshalb kontrolliere ich, dass ich auch tatsächlich genügend gegangen bin. Bewegung ist Nahrung für die Vitalität. Und sie ist immer auch eine Massnahme gegen die Verkrustung, gegen die Erstarrung. Es ist wichtig, regelmässig zu gehen.
Für Ihr Buch unternahmen Sie jede Woche einen Fussmarsch. Meist starteten Sie direkt vor Ihrer Haus­tür in Zürich-Oerlikon. Stimmt demnach die Redewendung «Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah»?

Es ist nicht gesagt, dass man vor der Haustür nur Gutes sieht. Viele meiner Beschreibungen sind erschreckend – etwa, wenn ich im Text «Maibummel» auf meinem Weg nach Dietlikon durch das Fegefeuer der Agglomeration getrieben werde.
Sie sahen auch schöne Dinge.

Was wir landläufig als schön bezeichnen, liegt überraschend nah. Auch in Zürich ist man schnell in einem Tobel und denkt: Was, ich bin noch in der Stadt? Ich liebe die landschaftliche Vielfalt der Schweiz. Man kann hierzulande auch in die Antarktis reisen. Wer vom Jungfraujoch über den Konkordiaplatz geht, steht plötzlich inmitten von fünf Gletscherströmen. Wunderbar!
Kann der Mensch nur aufnehmen, was er im Schritttempo gehend sieht?

Nicht mal dann. Wandere ich mit einem Menschen, der besondere botanische Kenntnisse hat, fällt mir auf, wie viel ich im Alltag verpasse. Plötzlich zeigt er auf den Boden und sagt: «Oh, schau mal, ein Hexenkraut» – oder eine Schwalbenwurz. Ohne meinen Mitwanderer hätte ich diese Pflanzen nie beachtet.
Macht Wandern glücklich?

Mich schon, ja. Ich erlebe dabei ein Stück Freiheit. Denn ich mache an diesem Tag nichts, was mit meiner sonstigen Arbeit zu tun hat. Das tut gut. Und dann diese Momente, in denen man an einen schönen Ort kommt: Auf einem Berggipfel stehen ist für mich immer ein besonderes Gefühl.
Inwiefern?

Das ist schwer zu erklären. Man ist aufgestiegen und kommt zu einem Punkt, wo es nicht mehr weitergeht. Man schaut her­um, ist hoch oben, ist weit weg.
Ist das ein Grund zum Glücklichsein?

Man könnte es so sagen: Ich habe etwas völlig Sinn- und Nutzloses getan. Eine Wanderung ist losgelöst von einer Notwendigkeit. Vielleicht gehört genau das zum Glück dazu.
«Es gibt Spaziergänge, von denen man jahrelang träumt», schreiben Sie in Ihrem Buch. Welchen Traumweg haben Sie zuletzt beschritten?

Ich bin von Zürich-Oerlikon auf den Säntis gelaufen.
Wie kam es dazu?

Seit ich vor 35 Jahren nach Oerlikon gezogen bin, dachte ich daran, einmal auf den Säntis zu wandern. Er ist der einzige Gipfel, den ich von unserem Haus aus ­sehen kann.
Wie lange waren Sie unterwegs?

Für die siebzig Kilometer brauchte ich sechs Tage.
Gefiel Ihnen die Wanderung?

Sie war schön und abwechslungsreich. Ich kam durch Gegenden, die ich bisher nur wenig kannte. Aber es war auch ein bisschen traurig, als ich auf dem Gipfel ankam.
Warum?

Jeder erfüllte Traum macht etwas traurig, denn mit der Erfüllung ist auch der Traum weg. Und wovon soll man jetzt träumen?
In Ihrem Lied «Weni mol alt bi» singen Sie: «Vilicht han i Rheuma, bruuche ne Stock, füehrsch mi dänn am Arm.» Sie wurden kürzlich siebzig – ohne am Stock zu gehen.

Nur wenn ich bergab gehe, nehme ich einen Stock als Stütze, um die Gelenke zu schonen. Auch ich werde nicht jünger. Ich spüre es im Knie und etwas im Rücken.
Ist es mühsam, wenn sich der Körper immer öfter meldet?

Man hat es nicht gern. Wir wollen alle fitte Greise werden. Was ich aber nicht mag, sind Menschen, die sagen: Oh nein, länger als zwei Stunden kann ich nicht mehr gehen. Natürlich, wir sollen auf die Signale unseres Körpers achten, aber wir dürfen auch nicht sofort aufgeben. Klar gibt es Zeiten, in denen man besser zwäg ist, und andere, in denen es nicht so gut geht. Auch ich bin froh, dass ich genügend Wege ­kenne, auf welchen ich eine Stunde gehen kann und mich danach frei und gut fühle.​

Sie sagten einmal, dass Sie «nie ‹go laufe› gehen, um nachzudenken, sondern eher für das Gegenteil».
Das stimmt. Für mich ist «go laufe» ein Entleerungsvorgang. Während des Gehens sinken in meinem Kopf die Themen ab, die mich vorher beschäftigten. Dinge, die mich bedrücken, vergesse ich während des Wanderns. Ich gehe zum Nichts­­­- denken.
Aus scheinbar Nichts entsteht oft Neues.

Das stimmt. Wenn man leer wird, beginnt man sich von irgendwoher wieder aufzufüllen – auch mit Unerwartetem.
Unerwartetes geschah auch vor 35 Jahren im Herbst, als Sie mit einem Freund auf den Federispitz ob Schänis im Kanton St. Gallen wanderten.
Damals tauchte aus dem Nichts plötzlich ein Mann auf. In alten Kleidern – wie sie Anfang des Jahrhunderts getragen wurden. Der Mann sprach unverständlich, kam uns entgegen – und war im nächsten Moment verschwunden.
Eine Erscheinung?

Ich habe jedenfalls bis heute keine Erklärung dafür. Es kann sein, dass das ein realer Mensch war und wir irgendetwas übersehen haben, als der Mann auftauchte und vor allem als er wieder verschwand.
Es könnte also eine Erscheinung gewesen sein.
Das schliesse ich nicht aus. Einen Beweis dafür habe ich jedoch nicht. Mein Freund und ich sahen aber beide das gleiche Bild. Wir waren nach dem Zusammentreffen äus serst nachdenklich und fragten uns: Was war das gewesen?​

Sprachen Sie mit dem Mann?
Ja. Ich fragte ihn, wo er hingehe und ob er mit dem Auto angereist sei. Auf die Erwähnung des Wortes «Auto» rea­gierte der Mann befremdet. Wäre ich alleine unterwegs ge wesen, wäre eine Halluzination wahrscheinlicher gewesen.

Sind Sie der Begegnung noch weiter nachgegangen?
Ich stellte mir vor, dass es jemand war, der tödlich verunglückt ist. Man hätte nachforschen müssen, wie viele Bergunfälle es auf dem Federispitz in den letzten Jahrzehnten gegeben hatte. Schliesslich war ich aber zu bequem, um der Sache wirklich auf den Grund zu gehen.
Glauben Sie an Wunder?

Ja. Jede Geburt eines Menschen ist eines.
Was sind die drei wichtigsten Dinge, die Ihnen beim Wandern klar wurden?

Sind Sie auch mit einer Sache zufrieden?
Ja natürlich.

Es geschah vor zwanzig Jahren auf einem Spaziergang im Zürichbergwald. Ich trat aus dem Wald und sah einen Berg vor mir. Ich war völlig perplex, weil ich diesen Gipfel hier vorher noch nie gesehen hatte. Bis ich nach einer Hundertstelsekunde begriff: Es ist eine prägnant beleuchtete Wolke mit unheimlich scharfen Konturen. Es war ein Ver-Sehen.
Was geschah danach?

Das Bild mit dem Berg liess mich nicht mehr los. Ich fing an zu überlegen, was es brauchen würde, um zwischen ­Dübendorf und Wallisellen wirklich einen Berg entstehen zu lassen, und begann zu schreiben.
War das der Impuls für Ihren Roman «Der neue Berg»?

Ja. Er wurde 434 Seiten lang. Ich habe nie mehr einen solch langen Roman geschrieben. Es geschieht in der Geschichte vieles, aber das Hauptmotiv, auf das es am Schluss hinausläuft, ist ein ausbrechender Vulkan in der Agglomeration, der einen Berg entstehen lässt. Und das meine ich mit dem Unerwarteten beim Gehen: Es war ein absichtsloser Spaziergang, und plötzlich wurde daraus ein wesentlicher Teil meiner Arbeit. Ich schrieb anderthalb Jahre an diesem Roman.
Wie erklären Sie jemandem die Schönheit des Wanderns?

Ich fühle mich nicht als Missionar des Wanderns. Es gibt Menschen, die machen es einfach nicht gerne. Aber ich denke, ich würde als Erstes zu ihm sagen: Kommst du mit? Gehen wir zusammen?​



Franz Hohler, 70 , wuchs in Olten auf. Nach fünf Semestern Studium in Germanistik und Romanistik ­widmete er sich ganz der Kunst. Er wurde Kabarettist und Schriftsteller. Sein Buch «Spaziergänge» erschien letztes Jahr (Luchterhand). Mit dem Gehen befasst er sich 2005 auch in «52 Wanderungen». Der Roman «Der neue Berg» ist 1989 erschienen. Zuletzt erschien von ihm die Erzählsammlung «Der Geisterfahrer» (Luchterhand). Hohler ist mit der Germanistin und Psychologin Ursula Nagel verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Seit 35 Jahren lebt er in Zürich-Oerlikon.

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